Das Flüstern der Synapsen – das sind die Kontaktstellen der Nervenzellen (mehr dazu auf Seite 50) – kann man nicht hören, aber man kann es in Bilder übersetzen. Die elektrischen Potenziale tausender Synapsen an der Hirnoberfläche schwanken ständig. Das erzeugt eine elektrische Spannung, die man mit Elektroden auf der Kopfhaut messen, elektrisch verstärken und im Elektroenzephalogramm (EEG) abbilden kann. Diese Rhythmen werden mit griechischen Buchstaben benannt. Die schnellsten heißen Gamma, das ist hochkonzentriertes Wachsein, dann folgen mit Beta und Alpha aktives und entspanntes Wachsein. Langsame Theta- und sehr langsame Deltawellen sind typisch für Schlaf. Das EEG ist zeitlich sehr genau; es zeigt Spannungsänderungen im Abstand von Millisekunden an. Räumlich ist es weniger
Die Gehirnforschung hat einige Fragen zum Gedächtnis beantwortet. Doch wenn man, wie es so schön heißt, »dem Gehirn bei der Arbeit zuschaut«, liefert das nicht automatisch anwendbare harte Fakten. Man sieht zwar, dass und wo es arbeitet. Man sieht aber nicht, womit es sich beschäftigt; deshalb kann man nicht einfach ablesen, welche Struktur für welche Fähigkeit zuständig ist. Will man das herausfinden, muss man mit den Aufgaben beginnen. Im Fall Gedächtnis schließen wir: Bearbeitet jemand eine Gedächtnisaufgabe und sein Gehirn wird währenddessen an ganz bestimmten Stellen aktiver, dann
sind diese Stellen auch für das Gedächtnis zuständig. Stellen Sie sich aber vor, jemand bearbeitet Aufgaben mit Wörtern am Bildschirm; die Wörter erscheinen dort aber so kurz, dass nur extreme Schnell-Leser sie erfassen können. In diesem Fall kann man nicht unbedingt schließen, dass ein besonders aktives Gehirnareal auch fürs Gedächtnis zuständig ist; vielleicht benötigt man es eher fürs Lesen oder für das Nachdenken. Einigermaßen sicher ist dieser Schluss erst, wenn die Aufgabe wirklich nur Gedächtnis prüft.
Heute wissen wir, dass bei expliziten Gedächtnisaufgaben zunächst der Hippocampus aktiv ist, der weiter innen im Gehirn auf der Höhe des Scheitellappens liegt, im mediotemporalen Kortex. Direkt danach übernimmt das Stirnhirn, genauer: der präfrontale Kortex. Der erledigt ansonsten übergeordnete geistige Aktivitäten, die man »exekutiv« nennt; exekutiv ist, dass wir planen, Gedanken zusammenführen und den Überblick bewahren. Bei impliziten Gedächtnisaufgaben arbeiten vor allem Strukturen im Striatum, die Basalganglien; die sind vor allem dafür zuständig, dass wir Bewegungen koordinieren können.
Die anatomischen Strukturen innerhalb des Schädels lassen sich inzwischen gut sichtbar machen. Die wichtigsten »bildgebenden Verfahren« sind heute die Computertomographie (CT) und die Mag netresonanztomographie (MRT). Technisch arbeitet CT mit Röntgenstrahlen, MRT mit der Reaktion der Zellen auf ein äußeres Magnetfeld. Beide Methoden liefern Schnittbilder aus dem Körperinneren, auch aus dem Gehirn. Jedes Bild zeigt, was man sehen würde, wenn man das Organ quer durchschneiden würde. CT wie MRT liefern mehrere Bilder von »Schnitten«; beim Gehirn haben sie meist einen Abstand von ungefähr einem Zentimeter. »Funktionell« bildgebende Verfahren zeigen, an welchen Stellen das Gehirn eines Menschen am meisten Sauerstoff
oder Glukose verbraucht, während dieser bestimmte Aufgaben erledigt: sich etwas merken, denken, nicht denken, zählen, rechnen usw. Es sind gewissermaßen Bilder von Funktionen. Die Stellen werden aus unübersichtlichen Messdaten statistisch berechnet und auf den Bildern des Gehirns farblich markiert. Die bunten Bilder sehen sehr plastisch und eindrucksvoll aus; messtechnisch sind sie trotzdem »Artefakte«, Kunstprodukte auf höchstem mathematischtechnischen Niveau. Sie vereinfachen das, was unser gesamtes Gehirn ständig leistet; doch sie zeigen uns die Orte im Gehirn, die wir bei der jeweiligen Tätigkeit benötigen. Neben MRT wird vor allem die Positronenemissionstomographie (PET) eingesetzt.
Funktioniert das explizite Gedächtnis bei Menschen besonders gut, deren Hippocampus besonders groß ist? Es gibt eine Gruppe, bei der das so zu sein scheint: bei Londoner Taxifahrern. Ihr Ortsgedächtnis ist überdurchschnittlich und der Hippocampus besonders groß. Beim Gedächtnis müssen Anatomie und Leistung also doch zusammenhängen. Die Frage nach Henne und Ei ist trotzdem offen: Wurden die Leute Taxifahrer, weil ihr Hippocampus so groß und deshalb
ihr Gedächtnis gut war – oder trainiert Taxifahren das Gedächtnis so, dass es sich in der Anatomie niederschlägt? Noch ist das nicht ganz geklärt, doch einiges spricht dafür, dass die zweite Erklärung stimmt.
Dendriten und Neuronen entstehen nicht zufällig und auch nicht bloß, weil es die Gene so bestimmen. Sie bilden sich, wenn das Nervensystem gefordert wird: wenn sich das Individuum in seiner Umwelt bewegt und sich mit ihr auseinandersetzt. Ist die Umwelt vielseitig, dann verarbeitet es auch mehr Neues. Dabei verknüpfen sich die aktiven Zellen untereinander, und überflüssige Zellen und Verbindungen bauen sich ab. Beides liegt biologisch dem Lernen zugrunde. Beides ist Plastizität.
Sie gehören zu den Lieblingsthemen vieler Hobbypsychologen: die Gehirnhälften . »Links sitzt das rationale Denken, rechts die Emotion«, predigen sie, und erklären damit allerlei Schwierigkeiten dieser Welt. Wir denken nie, ohne zu bewerten. Prompt fragt nach jedem Gedächtnisvortrag jemand, ob der linke Hippocampus rationales Wissen und der rechte die Emotionen speichere. Die Antwort ist eindeutig nein, schon deshalb, weil Gefühle beim Gedächtnis immer mit beteiligt sind. Wir denken nie, ohne zu bewerten, und genau das drückt Emotion aus. Andererseits sind die Gedächtniszentren links und rechts durchaus spezialisiert, allerdings nicht auf Denken oder Fühlen. Sie sind darauf spezialisiert, welches Material sie verarbeiten.
Der linke Hippocampus ist bevorzugt dann aktiv, wenn wir inzidentell und sprachlich lernen, der rechte, wenn wir uns räumliches Material einprägen. Beide arbeiten gleichzeitig, wenn wir uns Bilder merken. Im zweiten Schritt übernimmt der linke präfrontale Kortex verbales Material, der rechte unbekannte Bilder, auch Gesichter. Prägen wir uns Objekte ein, die man auch benennen kann, sind beide gleich beschäftigt – wenn es sich etwa um Kreise, Dreiecke oder Rauten handelt.
Im ersten Teil dieses Kapitels haben wir die zeitliche Reihenfolge beschrieben, die das Gedächtnis einhalten muss: aufnehmen/verschlüsseln, speichern/konsolidieren, abrufen/wiedergeben. Dass das neben psycho- auch bio-logisch ist, können wir inzwischen technisch »sehen«. Nehmen Sie an, Sie hören eine Geschichte. Dann verarbeitet das Hörzentrum die Laute und das Sprachzentrum deren Bedeutung. Das Ergebnis übernimmt der linke Hippocampus, weil wir uns Geschichten inzidentell merken. Der leitet die Information an den präfrontalen Kortex weiter, ebenfalls den linken, weil es um Sprache geht. Nachts, wenn Sie schlafen, sind genau die gleichen Neuronennetze zum zweiten Mal aktiv. Man interpretiert das so: das Gehirn holt die Information hervor. Rufen Sie tags darauf die Geschichte wieder ab, fallen Ihnen mehr Einzelheiten ein, als wenn Sie nicht geschlafen hätten: Die Informationen haben sich konsolidiert. Gleichzeitig »feuern« die Neuronennetze ein drittes Mal; so festigen sich die Informationen durch den Abruf weiter.
Sind Sie schon einmal in ein Haus, einen Raum, einen Ort gekommen, wo Sie das Gefühl hatten: Da war ich schon? Gleichzeitig war völlig klar: Das kann nicht sein. Dieses relativ seltene Gedächtnisphänomen nennt man Déjà-vu , das bedeutet: schon einmal gesehen. Es hat damit zu tun, wie das Gehirn neue visuelle Informationen behandelt. Wenn wir etwas wahrnehmen, überprüft
eine Region im Schläfenlappen, ob das neu ist oder bereits bekannt. Dabei können sich Fehlzuschreibungen ereignen; das führt zu einem Bekanntheitsgefühl, das gehörig irritieren kann – Déjà-vu. Besonders häufig tritt ein Déjà-vu-Erlebnis bei Epilepsien auf, deren Herd in dieser Prüfregion liegt, im Schläfenlappen des Gehirns.
Eigentlich handelt es sich bei der Stressreaktion um eine Art Rettungsprogramm in der Not. In einer solchen Situation brauchen Sie sich keine neuen Geschichten einzuprägen. Deshalb stört es auch nicht, dass die für das Explizite zuständigen Gehirnareale Hippocampus und Frontalhirn nicht zur Verfügung stehen. Die sind nämlich unter Stress mit einer einzigen Aufgabe beschäftigt: wie Sie den Stressor wieder loswerden. Deshalb ist unter Stress jede kognitive Leistung beeinträchtigt. Kortisol vermindert die Gedächtnisleistung ohnehin.
Das implizite Gedächtnis dagegen – das für Bewegungen, Gefühle oder Fertigkeiten zuständig ist – benötigt keinen Hippocampus. Es wird auch nicht durch Kortisol gestört. Deshalb lernen wir auch schwimmen, wenn uns der Lehrer stresst. Wir speichern auch im größten Stress, dass die heiße Herdplatte kein Ort ist, wo man sich gefahrlos die Hände wärmt.
Hippocampus und Frontalhirn benötigen den Neurotransmitter Acetylcholin , um ihre Gedächtnisaufgaben zu erfüllen. Wenn sich nun im Gehirn von Patienten mit Alzheimer-Demenz immer mehr Plaques und Neurofibrillen konzentrieren, können die zuständigen Nervenzellen immer weniger Acetylcholin herstellen.
Dauerhaft speichern wir ein Erlebnis nur dann als persönliche Episode, wenn bei den Gedächtnisstufe n aufnehmen – speichern – abrufen drei Punkte zusammenkommen: Aufnehmen/verschlüsseln 1: Das Ereignis ist ungewöhnlich, bietet also auffällige Hinweisreize. Das unterstützt die Aufmerksamkeit. Aufnehmen/verschlüsseln 2: Sie erleben es intensiv und bewerten es emotional positiv oder negativ. Dadurch wird es wichtiger.
Abrufen: Gelegentlich rufen Sie sich das Ereignis bewusst ins Gedächtnis, eben weil es wichtig war. Das Abrufen ist einfach, weil Sie viele Hinweisreize zur Verfügung haben. Bei jedem Abruf speichert sich die Erinnerung an das Erlebnis neu.
Falls Sie also am 23. April Geburtstag hatten, ein Kind bekamen, geheiratet haben, eine Prüfung hatten, eine neue Stelle oder eine große Reise angetreten haben, stach dieser Tag deutlich aus dem Alltag heraus. Wenn Sie die Ereignisse gedanklich mit dem Datum verknüpft haben, werden Sie sich noch lange persönlich daran erinnern – episodisch.
Lebensart beeinflusst unmittelbar Ihre Identität; Sie sind nämlich persönlich stabiler, wenn Sie auf wichtige persönliche Erinnerungen bewusst zugreifen können, wenn Sie davon nicht »überfallen« werden in Form von Flashbacks oder intrusiven Erinnerungen (beides Seite 80) und auch nicht in Form von Grübeln; und schließlich, wenn Sie Ihr eigenes Verhalten dabei so in Erinnerung haben, dass Sie mit sich zufrieden sind.
Im EEG kann man drei verschiedene Schlafstadien unterscheiden: Leichtschlaf mit Thetawellen, Tiefschlaf mit Deltawellen und REM-Schla f; REM heißt Rapid Eye Movement, und in diesen Zeiten träumen wir besonders intensiv. Regelmäßig wechseln sich die drei Stadien ab, erst leicht, dann tief, dann REM. Ein solcher Durchgang heißt »Zyklus« und dauert anderthalb Stunden. Danach beginnt ein neuer Zyklus.
Wer etwas Neues lernt und danach schläft, beherrscht es nach dem Erwachen besser als direkt nach dem Lernen. Wer die gleiche Zeit ohne Schlafen abwartet, hat einiges wieder vergessen. Im Tiefschla f konsolidieren sich hauptsächlich explizite Inhalte, im REM-Schlaf hauptsächlich die impliziten. Die Konsequenz ist klar: Guter Schlaf ist ein unerlässlicher Schutz für Ihr Gedächtni s, und das lebenslang. Einzelne schlechte Nächte sind ungefährlich; kehren sie wochenlang ständig wieder, sollten Sie jedoch etwas dagegen tun.