Halko Weiss, Michael E. Harrer, Thomas Dietz – Das Achtsamkeits Buch

Das Achtsamkeitsbuch

»offenes, nich turteilendes Gewahrsein von Augenblick zu Augenblick« (Kabat-Zinn, 2006a, S.)”

»das aufmerksame und unvoreingenommene Beobachten aller Phänomene, um sie wahrzunehmen und zu erfahren, wie sie in Wirklichkeit sind, ohne sie emotional oder intellektuell zu verzerren« (Solé-Leris, 1994, S. 26).”

Achtsamkeit ist im Kern aus vier Bausteinen zusammengesetzt: Achtsamkeit bedeutet erstens eine bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit. Diese Aufmerksamkeit ist zweitens auf den jeweils gegenwärtigen Moment gerichtet, auf den Fluss des Erlebens, das sich ständig verändert. Achtsamkeit ist drittens charakterisiert durch eine Akzeptanz dieses Erlebens, ohne zu urteilen, zu kritisieren oder etwas anders haben zu wollen. Viertens: Ein »Innerer Beobachter« wird kultiviert, der durch teilnehmendes Beobachten Abstand zum Beobachteten schafft und ermöglicht, aus Identifikationen herauszutreten. Diesen Prozess nennen wir hier Disidentifikation. Diese einzelnen Bausteine überlappen sich, verstärken und bedingen einander zum Teil gegenseitig.”

In Achtsamkeit kann beobachtet werden, dass sich Gedanken, Gefühle und Empfindungen ständig verändern. Was sich verändert, kommt und geht, und was beobachtet werden kann, kann nicht »Ich« sein – so lautet sinngemäß die Formulierung in dieser Übung zur Disidentifikation. Stattdessen muss ich das sein, was bleibt, was konstant und immer präsent ist. Dafür kommt nur der immer gleich Beobachtende in Frage.”

“Rumi, ein klassischer Sufi-Poet, benutzt in seinem Gedicht »Das Gästehaus« das Bild eines Hauses, um dieses Gewahrsein, diesen Raum, diese Leere zu beschreiben. Achtsamkeit bedeutet für ihn, die Gedanken und Gefühle wie Gäste willkommen zu heißen, sie kommen, aber auch wieder gehen zu lassen.“

Durch die Auswahl dessen, worauf wir die Aufmerksamkeit richten, gestalten wir unsere Erfahrungen. Langfristig haben diese Erfahrungen auch Auswirkungen auf die Verschaltungen in unserem Gehirn (siehe Glossar »Neuroplastizität«, S. 258). “

“Klarheit, Gleichmut und Konzentration. Klarheit ist die Voraussetzung dafür, sich selbst immer mehr so wahrzunehmen, wie man ist. Klarheit und Einsicht helfen auch, die Welt immer mehr so wahrzunehmen, wie sie ist. Gleichmut hilft körperliches und emotionales Leiden zu verringern, Konzentration ist notwendig, um sich dem zuwenden zu können, was wichtig ist. Konzentration vertieft Erfahrungen und führt zu größerer Erfüllung.”

“»Wenn Du es eilig hast, gehe langsam«”

“Ein weiterer problematischer Aspekt ergibt sich dadurch, dass wir dazu neigen, unseren Gedanken Glauben zu schenken. Wir erkennen sie nicht als Gedanken, sondern identifizieren uns mit ihnen und nehmen ihre Inhalte als Realität. Beispiele wären: »Ich kann das nicht«, oder »mein Mann liebt mich nicht«. Dies können auch ganze Geschichten sein, die wir von uns und unserem Leben erzählen”

“Schmerz führe dadurch zu Leiden, dass man ihn ablehnt, sich gegen ihn wehrt und ihn – oft vergeblich – weg haben will. Je größer der Widerstand ist, mit dem man gegen ihn ankämpft, desto größer wird das Leiden. Mathematisch ausgedrückt: wenn der Widerstand gegen Null geht, entsteht auch kein Leiden. Was bleibt, ist die reine, »faktische« Empfindung des Schmerzes”

“Um wirklich hinschauen und gelassen beobachten zu können, ist es hilfreich, das überwältigende Gesamtpaket in seine einzelnen Komponenten zu zerlegen. Wie fühlt sich der Schmerz genau an? Wo ist der Maximalpunkt? Wenn er eine Farbe hätte, welche wäre das? Wie ist seine Ausdehnung? Wie sind die Übergänge zu den schmerzfreien Bereichen? Mit welchen Vorstellungen und inneren Bildern ist er verbunden und mit welchen Gedanken? Wie fühlt sich der übrige Körper an? Wo ist dieser angespannt, wo aber auch entspannt und wohlig? Dieser Weg führt über die Konzentration zu verschiedenen Facetten der Beobachtung, zum Hinspüren und wieder Loslassen.”

“Akzeptanz ist auch in diesem Zusammenhang nicht gleichbedeutend mit Fatalismus oder Resignation! Sie bedeutet auch nicht, dass man etwas gut heißt, wie es ist. Akzeptanz kennzeichnet vielmehr den Verzicht auf eine Bewertung – weder positiv noch negativ – und den Verzicht auf den Kampf gegen den Zustand im gegenwärtigen Moment”

“»Lieber Gott, gib mir den Mut und die Kraft zu verändern, was ich verändern kann. Gib mir die Gelassenheit, zu ertragen, was ich nicht verändern kann. Und gib mir die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.«”

“Die eigene Präsenz ist das größte Geschenk, das ein Mensch einem anderen machen kann, meint Thich Nhat Hanh. Wenn sich diese Präsenz mit einem offenen, akzeptierenden Interesse verbindet, ist ein Fundament für eine glückliche Beziehung gelegt, die Raum für individuelle und gemeinsame Entwicklungen schafft. Wenn dann der innere Beobachter auch in Konfliktsituationen wach bleibt, kann der Standpunkt des Anderen nachvollzogen und eingefühlt werden, die Identifikation mit der eigenen Position wird vermieden. Gleichzeitig ist eine differenzierte Selbstwahrnehmung möglich, die neben dem Mitgefühl für den Anderen auch das für sich selbst vertieft”

“So wie Wut ansteckend sein kann, wirkt sich auch Gelassenheit auf einen Gesprächs- und Konfliktpartner aus”

“»Ich konnte nicht auf Konfrontation gehen. Stets wurde mir lächelnd und mit Vernunft geantwortet; dem konnte ich mich nicht entziehen. Ich spürte so etwas wie einen Schatten oder eine Aura – und konnte nicht aggressiv sein.«”

“Die zumindest zeitweise Disidentifikation von Gefühlen, Gedanken, Bedürfnissen und dem eigenen Standpunkt ermöglicht es, die Welt und damit sich selbst auch ein Stück weit mit den Augen des Anderen zu sehen. Wir verlassen für eine Weile die eigene Perspektive und versuchen, die Welt aus der Perspektive des Anderen wahrzunehmen. Sobald beide Welten gleichberechtigt und in gegenseitigem Verständnis nebeneinander Platz finden, tritt häufig schon Entspannung ein, ohne dass sich an den Fakten etwas geändert hätte”

“Im Alltag könnte Erfahrung in der Praxis der Achtsamkeit zu folgenden Aussagen führen (Wengenroth, 2008, S. 155–156):

•  »Ich bemerke Veränderungen in meinem Körper, wenn sie eintreten.«

•  »Ich kann gut in Worte fassen, was ich fühle.«

•  »Ich verliere mich nicht oft in Grübeleien oder Tagträumen. Ich kritisiere mich nicht, wenn ich unsinnige oder unangemessene Gedanken habe.«

•  »Ich knabbere nur selten irgendwelches Zeug, ohne mir bewusst zu sein, was ich da gerade esse.«

•  »Es kommt nicht oder nur selten vor, dass ich irgendwo bin und nicht mehr weiß, wie ich da hingekommen bin oder was ich dort wollte.«

•  »Ich bin nur selten so gedankenverloren, dass ich nicht bemerke, was um mich herum geschieht.«

•  »Ich nehme den Geruch und den Geschmack von Lebensmitteln sehr deutlich wahr.«

•  »Ich gehe gut mit mir um, auch wenn ich Fehler mache oder etwas schief geht.«

•  »Auch in schwierigen Zeiten erlebe ich Augenblicke inneren Friedens.«

•  »Ich habe Geduld mit mir und anderen.«

•  »Manchmal merke ich, wie ich mir selbst das Leben schwer mache, und dann kann ich darüber schmunzeln.«

•  »Ich merke es schnell, wenn meine Stimmung sich verändert.«

•  »Ich kann mir meine Gefühle anschauen, ohne mich in ihnen zu verlieren.«

•  »Es kommt nicht oft vor, dass die Zeit einfach so verrinnt, ohne dass ich bei der Sache bin.«

•  »Wenn ich etwas tu, bin ich meist mit vollem Herzen dabei.«

“Vielen Menschen ist vertraut, im Alltag von inneren Anteilen oder Stimmen zu sprechen, die unterschiedliche, oft auch kontroverse Sichtweisen gegenüber kleinen Alltags- oder größeren Lebensfragen haben. Das drückt sich beispielsweise bei einer Entscheidung aus, wenn man noch hin und her gerissen ist: »Ein Teil von mir würde gerne zusagen, ein anderer zögert noch.« Oder nach einer Provokation: »Da kam mal wieder der Zyniker in mir durch. Aber das ist eine Seite in mir, die ich überhaupt nicht mag!«”

“Moderne Modelle der Multiplizität der Psyche ermutigen jeden Menschen, die jeweils einzigartigen Anteile zu identifizieren und persönlich zu benennen. Damit entsprechen die Teile am ehesten der subjektiven inneren Wirklichkeit.

“Statt nur darüber nachzudenken und zu reflektieren, was einem da zu schaffen macht, kann man sich auf eine wahrnehmende, fühlende, »von Herzen kommende«, innere Begegnung mit jenen Persönlichkeitsanteilen einlassen, welche die entsprechenden Gefühle, Gedanken oder Verhaltensweisen verursachen. Dies erfordert ein achtsames Umlenken der Aufmerksamkeit nach Innen. Im Gegensatz zur reinen Achtsamkeitsmeditation wird hier jedoch nicht nur passiv beobachtet, sondern die Wahrnehmung bewusst gelenkt. Zu Beginn holt man sich innerlich die Ausgangssituation oder Gefühlslage her, die man näher erforschen möchte. Da es darum geht, genau jenen Zustand zu untersuchen, der auch im Alltag problematisch ist, vergegenwärtigt man sich die äußeren Umstände ganz genau und so lange, bis das dabei entstehende innere Erleben spürbar wird. Man erlaubt sich dann, es so deutlich wie möglich zu empfinden. Eine spezielle Art der Selbstbefragung vertieft das aktive Hineinspüren und verhindert, dass es beim reinen Nachdenken bleibt. Sie dient nicht primär der Informationsgewinnung, sondern hat vor allem den Zweck, die Achtsamkeit zu vertiefen und ein differenziertes Erforschen im Hier und Jetzt zu erleichtern”

“Wer im Gespräch präsenter, konzentrierter und gelassener ist, kann besser zuhören, besser verstehen, worum es geht, und ist weniger abgelenkt durch seine eigenen Gefühle und Gedanken”

“Es hilft außerordentlich, die eigenen Teile so gut zu kennen, dass man weiß, wer sich innerlich wann, wie und vielleicht auch warum meldet. Mit einem Grundverständnis der Dynamik seiner Persönlichkeitsanteile kann man schwierige Reaktionen – sowohl bei sich als auch bei anderen – besser einschätzen und alternative Wege suchen. Anstatt sich beispielsweise über eine unangemessen schroffe, aggressive Reaktion zu ärgern, ahnt man, dass damit vermutlich gerade etwas Empfindsames beschützt wird, und man kann sich diesem tiefer liegenden Gefühl zuwenden. Speziell in Konfliktgesprächen, wenn das Verhalten von impulsiven Beschützern gesteuert wird und die Verletzlichkeiten nicht sichtbar sind, ist es wichtig, die Teile und ihre oft zunächst nicht klar fassbaren Bedürfnisse möglichst früh wahrzunehmen”

•  Lassen Sie dann nacheinander einige der unten aufgeführten Situationen aus Ihrem Leben auftauchen. Versuchen Sie, sich diese Momente möglichst plastisch und lebendig zu vergegenwärtigen. Sobald Sie bei einer dieser Erfahrungen etwas verweilt haben, fahren Sie mit den Reflexionsfragen weiter unten fort.

–  Bei vertrauten automatischen Reaktionen.

–  Im Streit oder bei Auseinandersetzungen.

–  Jemand will etwas von Ihnen, bittet Sie um einen Gefallen.

–  Bei einer Rede, Präsentation oder einem Auftritt vor einer größeren Gruppe.

–  Im Spiel mit Kindern.

–  Sie wollen jemanden von etwas überzeugen.

–  Im Gespräch mit einer Autoritätsperson, z.B. einem Vorgesetzten.

–  In schwierigen Verhandlungen.

–  Im Urlaub oder in der Fre

izeit.

–  Ein typisches Dilemma oder ein schwieriger Entscheidungsprozess.

–  Sie werden kritisiert, jemand ist mit Ihnen unzufrieden.

–  Im Umgang mit einer dominanten Person.

–  Im Kontakt mit Ihren Eltern”

•  Versuchen Sie, für jeden Zustand, für jeden abgrenzbaren Teil Ihrer Persönlichkeit eine Beschreibung oder einen passenden Namen zu finden. Das hilft Ihnen später, Teile schneller zu identifizieren”

“Die letzten Jahrzehnte haben diese Vermutung bestätigt, indem sich gezeigt hat, dass frühkindliches Erleben mit dem Bewusstsein gar nicht zu berühren ist. Erinnerungen werden vom Gehirn ständig überarbeitet und verändert und gedankliche Interpretationen innerer Vorgänge werden sehr stark durch das beeinflusst, was wir uns wünschen oder was uns irgendeine brauchbare Erklärung liefert (Roth, 2003). Mit anderen Worten: wir können dem, was wir denken, keineswegs trauen.

“Achtsamkeit ermöglicht Bewusstwerdung durch gemeinsames Beobachten und nicht durch die – vor allem von mentalen Qualitäten getragenen – Strategien des Therapeuten wie Deuten, Reflektieren von Zusammenhängen oder das Erkennen von Mustern”

“Wenn auf wirklich befriedigende Weise Schritte des Sehens, Verstehens und Mitgefühls gemacht werden, entsteht Frieden auch mit jenen Strukturen der Innenwelt, die vorher belastend waren. Dann wird auch klar, was ein Mensch eigentlich gebraucht hätte und was er für sein Wachstum heute noch braucht”

“Achtsamkeit ist von Akzeptanz getragen und hat ein nie endendes Interesse an der Wirklichkeit. Wenn etwas im Blickfeld erscheint, das zunächst falsch oder schlimm wirkt, geht es in achtsamer Arbeit nicht darum, es zu verändern, sondern es zu erforschen. Deswegen kann eine achtsame therapeutische Arbeit primär keine spezifischen Veränderungsziele definieren und anstreben. Alle Techniken und Strategien, die darauf ausgerichtet sind, sind unbrauchbar”

“»Es ist äußerste Wachsamkeit und Aufmerksamkeit, die es uns ermöglicht, unser Verhalten zu ändern.«”

You may also like...